Dienstag, 19. April 2011

"Meine" NVA - 1990

"Alte Freunde behalten, neue Freunde gewinnen"
OSL Kilian, 1. Juni 1990

Nach der unkontrollierten Öffnung der Grenze an jenem 9. November 1989, veränderten sich auch die Verhältnisse und Einstellungen innerhalb der NVA und ihres Offizierskorps ... wenn auch zeitverzögert zum "Rest" der Bevölkerung. Im Ergebnis kündigten rd. 50 % der Berufsoffiziere nicht in der NVA, sondern "rutschten" so für eine Übergangszeit in das sog. "Bundeswehrkommando Ost" unter General Schönbohm. Etwa 25 % der 1988 aktiven Offiziere begehrten in die "richtige" Bundeswehr übernommen zu werden. Unter dem Strich wurden rd. 15 % der ursprünglichen Anzahl der Offiziere dieser Wunsch vorrübergehend gewährt, auf Dauer dienten ca. 7 % der NVA - Offiziere in der Bundeswehr, siehe: Abbau in den 90er Jahren.

Zum Vergleich:
Der Bevölkerungsanteil Ostdeutschlands an der größer gewordenen BRD beträgt knapp 20 %, im Krieg kämpfen bereits 49% Ossis. Damit unterscheiden sich die US-Streitkräfte und ihr "kleiner Bruder" hinsichtlich der sozialen Zusammensetzung nicht mehr: In beiden Streitkräften sehen die "underdogs", die Schwarzen und Latinos in den USA und die Ostdeutschen in der BRD, ihre Chance auf Job, Ausbildung und Aufstieg. Folglich dienen sie deutlich überproportional beim Militär in niederen Diensträngen. Höhere Dienstgrade sind aus diesen Schichten nur wenigen Vorzeige-Leuten vorbehalten.

Mich irritierte in der Übergangszeit vom 9.11.1989 bis 3.10.1990 eigentlich nur, daß so viele höhere Offiziere, einschließlich einer ganzen Reihe von Generalen, von der Bundeswehr "träumten", da hatte mancher Jungleutnant mehr Rückgrat gezeigt.

Während ich die Grenzöffnung "verschlafen" habe, habe ich noch in der Nacht zum Samstag, den 11.11.1989, einen Kollegen zum sog. "Polenzug" gefahren, damit er früh nach Westberlin fahren konnte. Ich selbst, war zwar auf den "Westen" neugierig, hatte am Samstag jedoch Flugdienst. Nach der Erinnerung eines Blog-Lesers wurde am Mittwoch, den 15.11.1989, bekannt gegeben, daß nunmehr Armeeangehörige auch offiziell in das kapitalistische Ausland reisen dürfen. Dazu sei es ab sofort möglich, den mit Beginn des Wehrdienstes eingezogenen Personalausweis abzuholen. Als Berufssoldaten hatten wir unseren Personalausweis bereits am Mann. Die Masse der Offiziere meines Geschwaders ist nach meiner Wahrnehmung am Mittwoch, den 22.11.1989, nach Westberlin ... woher sollten sie auch den Buß- und Bettag mit geschlossenen Geschäften und Banken kennen?! :-D

Nach dem Stempel in meinem Personalausweis, erhielt ich über meinen Vater das "Visum gemäß Antragstellung" am 16.11.1989. Am Donnerstag, den 23.11.1989, tauschte ich noch vor dem Flugdienst bei der Staatsbank der DDR 15,- DDR-Mark in 15,- DM "Zehrgeld" ein. Ich bin dann am Mittwoch, den  29.11.1989, das erste Mal rüber, übrigens in Begleitung des zuerst genannten Kollegen, der sich ja schon auskannte ;-) Selbiger lotste mich zu einem Postschalter, wo ich ohne längeres Schlangestehen die 100,- DM "Begrüßungsgeld" ausgehändigt bekam.  Ich war etwas irritiert, als einige Tage später die westallierten Stadtkommandanten es noch  explizit für nötig hielten, den NVA - Angehörigen Besuchsreisen in ihre Verwaltungssektoren in Westberlin zu gestatteten. Mein Staffelkommandeur verkündete beim "Antreten auf dem Flur" eine entsprechende Erlaubnis der NVA - Führung und hob das besondere Vertrauen her ... dabei waren alle, Staffelkommandeur incl., schon in Westberlin gewesen. Daher hielt ich das jahrelang für eine "spinnige Idee der da Oben". Das mit den westlichen Stadtkommandanten wußte ich damals noch nicht.

Im Dezember 1989 war ich noch 2x in Westberlin, um - jeweils als nun "erfahrener Westberlinbesucher" ;-) - einen Freund und meine Eltern zu begleiten. Beim letzten Mal, es muß die Woche vor Weihnachten gewesen sein und wir sind über Spandau rein, da wurde auf DDR - Seite wieder "richtig" (zollmäßig) kontrolliert. Und da ich der einzige Ossi ohne Beutel mit Bananen war, wurde ich "gefilzt" .... bekam aber mein "Penthouse" wieder :-D Mein Interesse am Westen war mit diesen Besuchen erloschen bzw. meine Neugierde befriedigt.

Die Stimmung kippte in der NVA zwischen Weihnachten und Silvester 1989 / 1990. Es kam nun vereinzelt zu Befehlsverweigerungen, Streiks und Meutereien, vor allem begann eine "Massenflucht" der Offiziere aus der SED, der sie bis dahin zu fast 100% angehörten. Schließlich war am 1. Dezember 1990 die "führende Rolle" der SED aus der Verfassung (Art. 1) gestrichen worden. Es brachte keine Vorteile mehr, in der SED zu sein. Mein Staffelkommandeur fuhr - nach meiner Erinnerung - bereits Ende Februar 1990 "privatdienstlich" - noch vor der schicksalsschweren Volkskammerwahl - auf einen westdeutschen Militärflugplatz, um schon einmal Kontakte zu knüpfen. Ich meine mich an seine begeisterte Schilderung am "Tag der NVA" im Bierzelt vorm Ledigenwohnheim zu erinnern. Der 1. März 1990 war damals ein schon richtig warmer Tag. Nach seiner Erinnerung war die Urlaubs - Fahrt "erst" über Ostern, d.h. zwischen 13. und 15. April 1990, wenn ich unterstelle, daß Ostermontag noch kein Feiertag war. Jedenfalls war er mit zwei weiteren Flugzeugführern und einem Techniker beim westdeutschen JG-74 in Neuburg. In deren 2. Staffel war ein Kennenlernprogramm mit Vorführungen des F-4E organisiert worden ... über Ostern?!?

Das wir verloren hatten, wurde mir erst endgültig bei der Vorbereitung der Volkskammerwahl am 18. März 1990 bewußt. Es gab eine Offiziersversammlung im Regimentsklub, bei dem sich die oppsitionellen Parteien ("Allianz für Deutschland") vorstellten. Sowohl deren (oft naiven) Statements als auch die peinlichen Reaktionen aus der Zuhörerschaft, machten mir klar: Das kann wirklich nichts mehr werden. Am Wahltag habe wir gegrillt ...

Am 16. April 1990 erklärte der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, gegenüber seinen Vorgesetzten, der Bundesregierung, "dass er die Nationale Volksarmee (NVA) nicht auflösen könne, weil die entlassenen Offiziere und Unteroffiziere ein Sicherheitsrisiko für ihn und seine Regierung bedeuten würden", vgl. auch 2plus4.de.

Im 23. April 1990 fuhr ich das erste Mal durch Westdeutschland, in einem Reisebus nach Spanien. Der Urlaub endete am 2. Mai 1990 und hatte mich so beeindruckt, daß ich später öfters in Spanien war und letztens im gleichen Hotel wieder urlaubte.

Am 2. Mai 1990 findet eine Kommandeurstagung der NVA statt. Minister Eppelmann erklärt: "Was die NVA betrifft, so wird sie nach meiner Auffassung so lange weiterbestehen wie in Europa zwei Militärbündnisse, die NATO und der Warschauer Pakt, existieren." Die Auflösung des Warschauer Vertrages erfolgte "erst" am 1. Juli 1991. Auf dieser Kommandeurstagung konnte der Minister die anwesenden Offiziere der NVA "beruhigen". „Als Mann der Friedensbewegung", sagte er dort, „brauche ich eine realistische Betrachtung." Er wünsche sich kein entmilitarisiertes Deutschland. Deshalb spreche er sich für die „sicherheitspolitische Selbständigkeit" der DDR und die „Fortexistenz" der NVA aus. Nur jeder dritte Offizier werde gehen müssen. Generalleutnatn Süß meinte anschließend: »Überhaupt befinde sich die NVA in einem "bestimmten Stabilisierungsprozeß". Zwar habe er, Süß, „schlaflose Nächte" durchgemacht, dies aber, weil er bis vor einem Monat für die Militärreform verantwortlich gewesen sei. Doch nun schöpfe er Hoffnung, denn die Regierung sei „in Ordnung", Eppelmann „vernünftig". Der Geschwaderkommenadeur des JG-3, Oberstleutnant Kilian, meinte: "Eppelmann hat uns die Perspektivangst genommen".

Im weiteren Verlauf des Mai ging es dann quasi im Staffelverband für einen Tag auf die ILA in Hanover (15.-20.05.1990) und die Woche drauf zum Tag der offenen Tür der US-Air Force in Berlin - Tempelhof (24.-28.05.1990).

Am 1. Juni 1990 fand eine Offiziersversammlung im Regimentsklub statt. Dort wurden wir nach meinen Aufzeichnungen u.a. über folgende Pläne informiert:
- Die NVA erhält einen "territorialen Sonderstatus" innerhalb der NATO.
- Für 1991/1992 wäre eine Stärke der NVA i.H. von 100.000 Mann und ab 1995 von 70.000 Mann geplant.
- Die Einrichtung einer "Militärabwehr" erfolgt auf Ebene Division, Für die 1. LVD unter Leitung von OSL Stimme.
- Ab 01.07.1990 gäbe es "freie Markwirtschaft" für Verpflegung. Der Verpflegungssatz betrage dann 5,50 DM pro Tag, es erfolge wahrscheinlich keine Auszahlung mehr.
- Ab 01.12.1990 träte der "STAN 93" in Kraft. Die erst geschaffenen "Fliegerbasen" hießen dann "Fliegerhorste".
- Ab 01.07.1990 gehören die Grenztruppen der DDR zur Polizei und ab dem 01.12.1990 würden sie "Grenzschutz" heißen und zum Schutz der EG-Grenzen beitragen.
- Berufoffiziere die kündigen, würden entweder zwei Jahre bezahte Berufvorbereitung in einem Betrieb erhalten, oder zwei Jahre von der Armee bezahltes Studium.
- Es erfolge eine Angleichung an bundesdeutsche Verhälnisse.
- Statt "Fotografieren vor der Truppenfahne" gäbe es nun die Auszeichnung "Fotografieren vor der Kampftechnik".

An Übungen / Maßnahmen war u.a. geplant:
- 16. bis 20.07.1990 "Granit 90"
- 20. bis 29.08.1990 "Druschba 90"
- 17. bis 19.09.1990 Kommandostabsübung
- an 1991 wieder Reservistenausbildung und Mobilmachungsübungen.

Wenn ich mich richtig erinnere, kamen bereits im Juni die ersten Bundeswehrsoldaten zu einem Besuch auf Arbeitsebene. Am 30. Juli 1990 sendet der Minister für Abrüstung und Verteidigung, Rainer Eppelmann, zur Beruhigung der Armeeangehörigen ein Fernschreiben an alle Kommandeure: „Die Nationale Volksarmee, ganz gleich wie ihre künftige Bezeichnung Struktur und Stärke sein sollte, hat aus meiner Sicht eine Zukunft auch im vereinten Deutschland. Sie wird auf dem Territorium der jetzigen DDR u.a. Aufgaben zur Aufrechterhaltung der äußeren Sicherheit zu erfüllen haben.“

"Wir haben etwas einzubringen, wir müssen uns teuer verkaufen"
OSL Sonntag, Leiter FID, 1. Juni 1990

Ich habe dann zum 30. September 1990 gekündigt.


letztes update: 17.11.2012

3 Kommentare:

  1. WIMRE wurde am Mittwaoch, den 15.11.1989, bekannt gegeben, daß nunmehr Armeeangehörige auch in das kapitalistische Ausland reisen dürfen und es ab sofort möglich sei, den Personalausweis (PA) abzuholen.

    Den PA hatten nur die Berufssoldaten am Mann.

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    1. Stimmt: "BEFEHL NR. 126 / 89
      DES MINISTERS FUER NATIONALE VERTEIDIGUNG
      UEBER
      PRIVATREISEN IN DAS AUSLAND

      VOM 14. NOVEMBER 1989"
      aus: Der SAS- und Chiffrierdienst (SCD)

      Demnach wurde die Reisefreiheit für Angehörige der bewaffneten Organe und insbesondere Geheimnisträger am 15.11.1989 bekanntgegeben, wobei er jedoch mit "SOFORTIGER WIRKUNG IN KRAFT" trat, d.h. bereits am 14.11.1989.

      Allerdings entfaltete m.W. die Information der Vorgesetzten vor Reiseantritt keine praktische Wirkung über das normale maß hinaus.

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  2. Dazu Generalleutnant Horst Jungkurth von der Bundeswehr:
    InspL Tafeln 2010 A4_08.pdf

    »Nach dem Fall der Berliner Mauer und in Erwartung eines vereinten Deutschlands verabredeten militärische Führer der Nationalen Volksarmee (NVA), Kontakt zur Bundeswehr zu suchen.

    Das Bundesministerium der Verteidigung regte an, dass Bundeswehr-Kommandeure darauf eingehen sollten, allerdings informell und in Zivil. So hatte der Inspekteur der Luftwaffe schon Ende 1989 Verbindung zum Chef des Stabes der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung (LSK/LV) der NVA, Generalleutnant Rolf Berger ...

    Hervorzuheben ist das Offizierkorps, das sich ... um einen geordneten Übergang bemühte.«

    Auch spannend, die Vergangeheitsform des letzten Wortes im letzten Satz folgender Aussage:
    »Am 3. Oktober 1990 formierte die Luftwaffe in Strausberg-Eggersdorf die 5. Luftwaffendivision als Übergangslösung, der alle im Beitrittsgebiet bestehenden LSK/LV Verbände der NVA unterstellt wurden - eine "Luftwaffe im Kleinen". Die Truppenteile wurden aufgrund des 2+4-Vertrages nicht der NATO assigniert. Das änderte sich erst mit dem Abzug der
    sowjetischen Truppen 1994, wobei der mit der Sowjetunion vereinbarte Verzicht auf die Dislozierung von Atomwaffen fortbestand

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