Sonntag, 2. Januar 2011

Staatsschutznorm BRD

In jeder bundesdeutschen Literatur und Publikation zum Thema wird die "Boykotthetze" gem. Art. 6 DDR - Verfassung a.F. weitgehend einträchtig verurteilt und als stalinistisches Unrecht gegeißelt:

=> Art. 6 der Verfassung der DDR von 1949
".... Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches. Ausübung demokratischer Rechte im Sinne der Verfassung ist keine Boykotthetze."
http://verfassungen.de/de/ddr/ddr49-i.htm

Mit Inkrafttreten des Ersten Strafrechtsergänzungsgesetzes der DDR am 1. Februar 1958 wurde dieser - als unmittelbar anzuwendendes Strafnorm seit Oktober 1950 angewendete - Artikel nicht mehr angewendet.

Nur mit etwas Mühe wurde mir klar, daß nicht nur die Besatzungsmacht auf diesen Artikel drang, sondern er - als unmittelbares Strafrecht - notwendig war, da 1945 durch die Sieger alle Staatsschutzvorschriften des StGB erst einmal gestrichen wurden. Nach Staatsgründung 1949 wurden solche Vorschriften aber gebraucht, da das StGB noch nicht reformiert war. Es dauerte ziemlich lange, bevor mir bekannt wurde, daß natürlich auch die BRD so einen schicken Artikel in ihrem Grundgesetz hatte, den Art. 143 GG a.F.:

=> Art. 143 GG der BRD von 1949
"(1) Wer mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt die verfassungsmäßige Ordnung des Bundes oder eines Landes ändert, den Bundespräsidenten der ihm nach diesem Grundgesetze zustehenden Befugnisse beraubt oder mit Gewalt oder durch gefährliche Drohung nötigt oder hindert, sie überhaupt oder in einem bestimmten Sinne auszuüben, oder ein zum Bunde oder einem Lande gehöriges Gebiet losreißt, wird mit lebenslangem Zuchthaus oder Zuchthaus nicht unter zehn Jahren bestraft.
(2) Wer zu einer Handlung im Sinne des Absatzes 1 öffentlich auffordert oder sie mit einem anderen verabredet oder in anderer Weise vorbereitet, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft.
(3) In minder schweren Fällen kann in den Fällen des Absatzes 1 auf Zuchthaus nicht unter zwei Jahren, in den Fällen des Absatzes 2 auf Gefängnis nicht unter einem Jahr erkannt werden.
(4) Wer aus freien Stücken seine Tätigkeit aufgibt oder der Beteiligung mehrerer die verabredete Handlung verhindert, kann nicht nach den Vorschriften der Absätze 1 bis 3bestraft werden.
(5) Für die Aburteilung ist, sofern die Handlung sich ausschließlich gegen die verfassungsmäßige Ordnung eines Landes richtet, mangels anderweitiger landesrechtlicher Regelung das für Strafsachen zuständige oberste Gericht des Landes zuständig. Im übrigen ist das Oberlandesgericht zuständig, in dessen Bezirk die erste Bundesregierung ihren Sitz hat.
(6) Die vorstehenden Vorschriften gelten bis zu einer anderweitigen Regelung durch Bundesgesetz."
http://www.verfassungen.de/de/de49/gg49-55.htm

Mit Reformierung des StGB und Einführung des politischen Strafrechts (Blitzgesetz vom 30.08.1951) in der Bundesrepublik wurde dieser Artikel gestrichen.

Wem jetzt die Gleichsetzung dieser Artikel als gewagt vorkommt, möchte ich antworten:
a) gleicher Hintergrund
b) Erste Staatsschutznorm
c) Unmittelbare Strafvorschrift in der Verfassung
d) Nach Reformierung des StGB gestrichen

Bekritteln könnte man im Art. 6 der DDR-Verfassung nur, daß die Strafe nicht bestimmt war, während Art. 143 bis "lebenslang" konkret androhte. Andererseits kenne ich nur Art. 6 in "Tateinheit mit ....". Einen gravierenden Unterschied der o.g. Artikel könnte es jedoch in der Quantität und Qualität ihrer Anwendung geben.

FRAGE:
Ist bekannt, wieviele Strafverfahren nach Art. 143 GG bzw. Staatsschutzverfahren bis 1958 (Streichung des vergleichbaren Artikels in der DDR) geführt, wieviel Personen betroffen und wieviel Urteile erwirkt wurden?

2 Kommentare:

  1. »Einen strafrechtlichen Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung des Bundes und der Länder hatte der Konvent von Herrenchiemsee indessen nicht vorgesehen.

    Diesen Schritt tat erst der Parlamentarische Rat mit der Strafdrohung gegen Hochverrat in Art. 143 GG i. d. F. von 1949. Unter Hochverrat versteht das Strafrecht einen Angriff auf die verfassungsmäßige Ordnung oder auf das Gebiet des Bundes und der Länder, und zwar mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt.

    Das Delikt des Landesverrats, im Strafrecht dann als Gefährdung der Bundesrepublik durch Preisgabe eines Staatsgeheimnisses an Unbefugte umschrieben, wurde vom Parlamentarischen Rat bewußt ausgeklammert.

    Mit Rücksicht auf die Besatzungsmächte sollten nämlich diejenigen Deutschen straffrei bleiben, die mit ihnen zusammenarbeiteten und ihnen Informationen aus deutschen Quellen verschafften.

    Hier stieß der Verfassunggeber auf Besatzungsrecht.«

    Zitiert (ohne Fußnoten) aus: "Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte", Heft 4 / 1990, Reinhard Schiffen "Grundlegung des strafrechtlichen Staatsschutzes in
    der Bundesrepublik Deutschland 1949-1951", S. 589ff.
    Link

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  2. Boykotthetze - Die Bestimmtheit der Strafe ergab sich aus Art. 144 Abs. 1 Satz 1 der Verfassung i.V.m. dem StGB. Mit der Frage hatte sich (natürlich auch) das Oberste Gericht der DDR auseinandergesetzt.

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