Mein 9/11
Der 9.11.1989 war ein Donnerstag, damit einer der üblichen 12-Stunden-Arbeitstage in
Preschen. Ich vermute, daß von 10.00 - 16.00 Uhr geflogen wurde, mithin sah der Zeitplan für das
ITP vor: 6.25 Uhr zum Arbeitsbeginn und 18.00 Uhr zum Arbeitsende "Antreten". Da wir jedoch zum Verdruß der "FID-Abteilung" des Geschwaders - die nicht zu Unrecht "verkürzte" Nachflugkontrollen vermuteten - stets schneller waren, war ich wahrscheinlich bereits 18.00 Uhr zu Hause: Ausziehen, waschen, etwas Abendbrot, Flimmerkiste an.
Im DDR - Fernsehen wurde live eine Pressekonferenz übertragen. Gegen Ende der einstündigen Sendung, kurz vor 19.00 Uhr, verkündete
Günter Schabowski u.a., daß eine Regelng zur
ständigen Ausreise aus der DDR getroffen sei und diese es möglich mache, über
Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen. Da ich nicht die Absicht hatte, die DDR dauerhaft zu verlassen - gegen einen Ku'damm - Besuch hätte ich naheliegend nichts gehabt - interessierte mich die Aussage nicht weiter und ich ging ins Bett. Am nächsten Tag war allgemeiner 8-Stunden-Arbeitstag, hier: "Technischer Dienst" angesagt, denn Samstags wird wieder geflogen ....
Als ich am nächsten Morgen aufstand und in der Küche "
Jugendradio" anschaltete, hörte ich Berichte von Rückkehrern aus
Westberlin und dachte mir noch:
"Ach, so war das gemeint!" Erst viele Jahre später wurde mir bekannt, daß sich die Möglichkeit von bloßen Besuchsreisen aus dem von Schabowki vorgelesenen Text herleitete: "Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen ..."
Zudem wird berichtet, daß die vier Offizieren des
MdI bzw.
MfS, welche diese Worte formulierten, den ursprünglichen Text zur "ständigen Ausreise", um die Möglichkeiten von Besuchsreisen selbständig ergänzt hätten.
Natürlich wäre weiterhin zum Verlassen der DDR, als ständige Ausreise oder Besuchsreise, ein gültiges Visum im Reisepaß oder als Übergangsregelung eine entsprechende Genehmigung durch die Paß- und Meldeämter der
Volkspolizei notwendig gewesen. In dieser Mitteilung waren diese Selbstverständlichkeiten lediglich nicht explizit ausgeführt. Die Regelung sollte auch nicht "sofort", sondern erst am folgenden Freitag um 04.00 Uhr in Kraft treten und im Laufe des Vormittags bekannt gemacht werden. Damit sollte den zuständigen Stellen - von Volkspolizei bis
Grenztruppen - Gelegenheit gegeben werden, sich auf die neue Situation vorzubereiten. Mit den ersten größerem Ansturm bei den Paß- und Meldeämter wurde ab Montag gerechnet und einem geregelten Reiseverkehr ab den Vorweihnachtstagen des Jahres 1989. Der entsprechende Sperrvermerk wäre von
Egon Krenz - nach den Autoren
Blasius und Loth - "ohne es überhaupt zu merken", nach Schabowski mit den Worten: „Gib das bekannt. Das wird ein Knüller für uns.“, nach Krenz mit den Worten: „Das ist doch die Weltnachricht.“,
aufgehoben worden. Ziel der Regelung, war zweifellos eine "Ventillösung", womit der erst einmal "Druck vom Kessel" genommen werden sollte.
Das ist nun gänzlich schief gelaufen. Warum?
Das Vorspiel:
Nun, es war nicht die erste "Ventillösung" im Zusammenhang mit der Krise in der DDR. So fuhren im Herbst 1989 mehrfach Züge mit insgesamt 17.000 Flüchtlingen von Prag über die DDR in die BRD, da die Botschaft gleich mehrmals neu besetzt worden war. Im BRD- Fernsehen wurde über diese und andere neue "Ausreisemöglichkeiten" ausführlich und fast drängend berichtet.
Ministerpräsident Stoph hatte
Innenminister Friedrich Dickel bereits am 19. Oktober - nur ein Tag nach Bekanntgabe des Rücktritts von
Erich Honecker - beauftragt, ein neues Reisegesetz zu erarbeiten. Weitere fünf Tage später, wurde bekannt gegeben, dass es "in der Zukunft allen DDR-Bürgern erlaubt sein wird, ohne Behinderungen zu reisen". Problematisch war vor allem das Fehlen einer freikonvertierbaren Währung, die DDR war außerstande genügend westdeutsche "
DM" zum Reisen bereit zu stellen.
Am 29. Oktober 1989 sprach Schabowski mit dem Regierenden Bürgermeister von Westberlin,
Walter Momper, und dessen Senatskanzlei-Chef,
Dieter Schröder, von der Absicht die Grenze im Dezember zu öffnen. Thema des Gesprächs waren bereits technisch-organisatorische Fragen. Daraufhin wurde beim Westberliner Senat eine Arbeitsgruppe gebildet, die entsprechende Maßnahmen vorbereitete. Dadurch war vieles mit "Maueröffnung" bereits geregelt und ausreichend
Begrüßungsgeld und Begrüßungszeitungen des Westberliner Senates vorhanden. Der erste Entwurf eines neuen Reisegesetzes lag am 31. Oktober vor, wurde am 6. November veröffentlicht und
zur Diskussion aufgerufen.
Die DDR konnte ihren Bürgern jedoch weiterhin nicht mehr als die 15,- DM "Zehrgeld"
versprechen, die bereits bei Westreisen gezahlt wurden. Daran konnte auch das neue Reisegesetz nichts ändern. Am selben Tag (6.11.1989)
treffen sich bereits zum zweiten Mal
Schalck-Golodkowski,
Seiters und
Schäuble. Schalck-Golodkowski
bittet zur Lösung des
Devisenproblems um einen Sofortkredit i.H.v. 10 Mrd. DM, dh. um ca. 650 DM pro DDR-Bürger.
Der
Verfassungs- und Rechtsausschuß und die in der Volkskammer vertretene
FDJ lehnen den Entwurf des Reisegesetzes ab. Je ein bis zwei Vertreter des "
Neuen Forum", "
Demokratie Jetzt", "
Demokratischer Aufbruch" und der
SDP treffen sich an diesem Tag
zu Gesprächen mit dem
US-Botschafter in der DDR. In einer Diskussion im DDR-Fernsehen
kritisierte der damals der Bevölkerung noch weitgehend unbekannte
Gregor Gysi den Gesetzentwurf scharf. Am Abend skandieren Demonstranten u.a.: »
In dreißig Tagen um die Welt – ohne Geld!« Die Ablehnung des Entwurfs führte zum
Rücktritt der DDR-Regierung, die die Amtsgeschäfte ab dem 7. November nur noch kommissarisch fortführte.
Im "
Bericht zur Lage der Nation" vor dem westdeutschen Bundestag am 8. November 1989, entzieht der BRD - Bundeskanzler, Helmut Kohl - nach
Rücksprache mit den USA - der DDR jede finanzielle Unterstützung, denn man wolle nicht "unhaltbare Zustände stabilisieren". Gefordert wird eine "grundlegende Reform der politischen Verhältnisse", die "verbindlich festgelegt" werden sollten. Die neue DDR - Führung steht unter "
maximalen Druck". Das öffentliche Leben in der
UdSSR ist noch von den Feierlichkeiten zur
Oktoberrevolution weitgehend lahmgelegt.
Gorbatschow erst in den Morgenstunden des 10. November 1989 erreichbar.
Operation "Mauerfall":
Als am 9. November 1989, 18:52:40 Uhr, der italienische Journalist Riccardo Ehrman (ANSA; ehem. AP) die - nach eigener Aussage - abgesprochene Frage nach dem Reisegesetz gestellt hatte, stellt der Bundeswehr - Oberleutnant d. R. und damalige BILD-Korrespondent, Peter Brinkmann, die entscheidenden Fragen: - "Ab sofort? Ab ...?" und
- Sie haben nur BRD gesagt, gilt das auch für West-Berlin?"
Günter Schabowski
erinnerte sich später: "... kamen seine Fragen wie aus der Pistole geschossen." Mit diesen Fragen werden die Probleme einer Lösung zugeführt. Durch die von Schabowski gestammelten Worte "sofort, unverzüglich" und die Bejahung der Ausreise über die Grenzübergangsstellen zu Westberlin werden sie im Sinne der BRD gelöst: Die
DDR - Organe haben keine Möglichkeit mehr, sich auf die neue Regelung einzustellen und Berlin, wo sich über die West - Medien innerhalb kurzer Zeit sich eine große Menschenmasse mobilisieren läßt, ist ausdrücklich einbezogen.
Obwohl Riccardo Ehrmann seine Nachricht über die neue Grenzregelung als Erster meldet, bleibt es unmittelbar noch ruhig. Keiner der anwesenden Journalisten wußte mit Schabowskis Ankündigung so recht etwas anzufangen. Sowohl die 19.00 Uhr beginnende "
Heute"- Sendung des
ZDF als auch die 19.30 Uhr beginnende "
Aktuelle Kamera" des
DDR-Fernsehens bleiben nahe an der
ADN-Meldung und verweisen lediglich auf die Möglichkeit der Ausreise. Es wird hervorgehoben, dass „Privatreisen nach dem Ausland ab sofort und ohne besondere Anlässe
beantragt werden können“. Im ZDF rangierte die Meldung sogar erst an 6. Stelle und wurde um 19.17 Uhr gesendet. Walter Momper, der über die geplante Regelung grundsätzlich Bescheid weiß, meint um 19.35 Uhr in der
SFB-Abendschau: „praktisch
morgen geht es los.“ Trotz der faktischen Aufhebung des Sperrvermerks von Krenz und dem Gestammel von Schabowski scheint alles seinen geplanten Gang zu gehen ...
Dann meldet die us-amerikanische Nachrichtenagentur "AP" - für die Ehrman mal gearbeitet hat - um 19.41 Uhr überraschend: "Die sensationelle Meldung: Die DDR-Grenze zur Bundesrepublik und nach West-Berlin ist offen". Eine Meldung, die noch nicht einmal im Ansatz - theoretisch und praktisch - stimmt. Noch um 19.05 Uhr hatte AP nicht ganz falsch gemeldet: "Die DDR öffnet nach Angaben von SED-Politbüromitglied Günter Schabowski ihre Grenzen. Dies sei eine Übergangsregelung bis zum Erlaß eines Reisegesetzes, sagte Schabowski". AP - "Agentur Associated Press", ist - nach Aussagen des ehemaligen US-Geheimdienst-Agenten
Philip Agee - eine vom
CIA unterwanderte Organisation und solle daher besser: "Asso
CIAted Press" genannt werden. Die westdeutsche Nachrichtenagentur
dpa zieht nur 13 Minuten später, um 19.54 Uhr, mit einer offensichtlichen Übersetzung ins Deutsche nach: "Sensation: DDR öffnet Grenzen zur Bundesrepublik und West-Berlin".
Das "Dumme" daran: Die DDR konnte zwar Reiseregelungen erlassen, wie sie wollte, aber niemals die Grenze nach Westberlin öffnen, da war das
Besetzungrecht und das Vier
-Mächte-Abkommen über "das betreffende Gebiet" und "Westberlin" von 1972 vor. Eine solche Grenzöffnung hätte nur durch die UdSSR in Absprache mit den anderen Siegern des 2. Weltkrieges vorgenomen werden können.
Dennoch plaziert die "
Tagesschau" der BRD um 20.00 Uhr die neue Reiseregelung als Top-Thema und blendet dazu die Schlagzeile "DDR öffnet Grenze" ein. Am Ende der Nachrichtensendung hatten sich tatsächlich 80 Ostberliner an 3 Grenzübergangstellen eingefunden. Bereits hier ist eine Konzentration auf den Grenzübergang "
Bornholmer Straße", im dichtbesiedelten Arbeiterbezirk "
Prenzlauer Berg", zu beobachten. Um 20.16 Uhr behauptet der US-Amerikanische Rundfunksender in Berlin
RIAS: "Die DDR hat ihre Grenzen zur Bundesrepublik mit sofortiger Wirkung für Westreisen und Übersiedlungen geöffnet." In der Halbzeit eines im Westfernsehen übertragenen Fußballspieles,
VfB Stuttgart gegen
FC Bayern München (Endstand ist dann 3:0), wurde gegen 21.08 Uhr ein
ARD - Brennpunkt über die angebliche Grenzöffnung geschaltet. Zeitgleich unterbricht der
Deutsche Bundestag eine Abend - Sitzung und intoniert aus Anlaß - der tatsächlich immer noch nicht stattgefundenen Grenzöffnung - das "Deutschlandlied". Die Nachrichten finden ihr Publikum: Zwischen 500 und 1.000 Menschen haben sich am Grenzübergang "Bornholmer Straße eingefunden". Um 21.20 Uhr dürfen die ersten DDR - Bürger mit Stempel auf dem Ausweisfoto an zwei Grenzübergangstellen kontrolliert die Grenze passieren. Noch immer geht alles seinen mehr oder weniger geregelten Gang .... Gegen 21.34 Uhr erklärt der US-Präsident auf einer Pressekonferenz, die Grenze sei geöffnet.
Da nach Ende des o.g. Fußballspiels noch Ausschnitte des Spiels Kaiserslautern gegen Köln gezeigt werden, beginnen 22.42 die
ARD -
Tagesthemen der BRD mit Verspätung. Der Moderator
Hanns Joachim Friedrichs eröffnet launig
mit folgenden Worten: "Guten Abend, meine Damen und Herren. Im Umgang mit Superlativen ist Vorsicht geboten, sie nutzen sich leicht ab, aber heute Abend darf man einen riskieren: Dieser neunte November ist ein historischer Tag: die DDR hat mitgeteilt, daß ihre Grenzen
ab sofort für jedermann geöffnet sind, die Tore in der Mauer stehen weit offen." Diese Meldung ist immer nicht wahr, jedoch ....
»... nach den Tagesthemen setzt ein Massenansturm auf die Grenzübergänge ein. Eine von den Medien verbreitete Fiktion ergreift die Massen - und wird dadurch zur Realität« (
Chronik der Mauer). Meldung von der "Bornholmer Straße" gegen
23.28 Uhr: „Wir fluten jetzt“.
Lt.
Dr. phil. Hans-Hermann Hertle waren die Medien hier "
Motor der Geschichte". Nach meinem oben beschriebenen "9/11" hätte ich ausrufen sollen:
"Ach, das hat das Westfernsehen daraus gemacht!" Jedoch: Wer hat den Motor angestellt und laufend mit Treibstoff versorgt?
Nichts geschieht in der Geschichte aus Zufall.
Projekt "Loch-in-der-Grenze":
Am Vormittag des 9. November 1989 läuteten die Telefone in der sowjetischen Botschaft in der DDR pausenlos: Mitarbeiter von Egon Krenz wollten eine Reaktion und Antwort der UdSSR auf die geplante Reiseregelung. In Moskau war jedoch kein Chef zu erreichen. Ein auch in der BRD nicht unbekannter Mitarbeiter im Apparat des
ZK der KPdSU,
Koptelzew, will dann vorgeschlagen haben: »Man sollte einfach sagen, das liege im souveränen Bereich der DDR, über das Regime ihrer Grenzen zu entscheiden.« Gegen Mittag gab der stellvertretende Außenminister
Aboimow, seine Kompetenzen überschreitend, grünes Licht für diese Antwort. Koptelzew scheint sich im klaren gewesen zu sein, daß sich alle Chefs nur haben verleugnen lassen, denn er meinte später: »Und da haben sich alle Höheren mächtig gefreut!«
Als nun der Bundeswehr - Oberleutnant d. R. und damalige BILD - Korrespondent, Peter Brinkmann, o.g. Frage stellt: "Sie haben nur BRD gesagt, gilt das auch für West-Berlin?" und "WESTBERLIN" durch Schabowski bestätigt wird, zeigte sich der Erste Gesandte und Stellvertreter des sowjetischen Botschafters in der DDR
Maximytschew enttäuscht, »daß "Krenz und Genossen die mit uns erzielte Absprache so verdreht" und die sowjetische Botschaft über ihre wahren Absichten getäuscht hatten." Allerdings wurde auch weiter nichts von sowjetischer Seite unternommen.
Was für eine "Absprache"?! Der
DDR-Außenminister Fischer wollte nach der Ablehnung des Reisegesetzes - in Abstimmung mit dem Innenministerium und der Staatssicherheit - die
ständige Ausreise aus dem Gesamtpaket
herauslösen und vorab regeln. Die Besuchsreisen sollten später geregelt werden. Am Mittag des 7. November 1989 setzte er den Botschafter der UdSSR in der DDR,
Kotschemassow, über die »Drohung der CSSR in Kenntnis, die Grenze zu schließen, wenn die DDR ihr Flüchtlingsproblem nicht mit eigenen Mitteln löse.« Laut dem Botschafter habe Fischer dann über die Einrichtung eines Sondergrenzüberganges für die ständige Ausreise im Süden der DDR zur BRD gesprochen (Loch in der Grenze) und
hierfür die
Zustimmung der sowjetischen Führung bis spätestens den 9. November erbeten. Die sowjetische Seite sei daher an jenem 9. November davon ausgegangen, daß die Anrufe zur Reiseregelung mit Fischer abgesprochen und sich lediglich auf die BRD bezogen.
Seit 9.00 Uhr dieses 9. November 1989 arbeitete nun aber o.g. 4-köpfige Arbeitsgruppe "im MfS" an einer Regelung, die am Nachmittag fertig wurde und nicht nur die ständige Ausreise, sondern auch Besuchsreisen, sowie die Ausreise über Westberlin zuließ.
Die Militärverbindungsmissionen der drei Westmächte in Potsdam zeigten sich irritiert. Der Chef der US-amerikanischen Mission erklärte, "das USA-Oberkommando würde Einwände erheben, falls Armeeangehörige der DDR Berlin (West) besuchen sollten". Am frühen Morgen des 10. November telefonierte Egon Krenz mit dem sowjetischen Botschafter Kotschemassow, der den Vorwurf erhob, die DDR sei wegen des Vier-Mächte-Status von Berlin nicht berechtigt gewesen, die Grenze zu Westberlin zu öffnen.
Putzig in diesem Zusammenhang das "
Entschuldigungs-Telegramm" von Krenz an Gorbatschow vom 10. November 1989: »Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Lage in der DDR war es in den Nachtstunden notwendig zu entscheiden, die Ausreise von Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik auch nach Berlin (West) zu gestatten. Größere Ansammlungen von Menschen an den Grenzübergangsstellen zu Berlin (West) forderten von uns eine kurzfristige Entscheidung. Eine Nichtzulassung der Ausreisen nach Berlin (West) hätte auch zu schwerwiegenden politischen Folgen geführt, deren Ausmaße nicht überschaubar gewesen wären. Durch diese Genehmigung werden die Grundsätze des Vierseitigen Abkommens über Berlin (West) nicht berührt; denn die Genehmigung über Ausreisen zu Verwandten gabes nach Berlin (West) schon jetzt.«
Mal abgesehen davon, daß "Krenz" überhaupt nichts in diesen Abendstunden des 9. November 1989 entschieden hat und eine unkontrollierte Grenzöffnung etwas völlig anderes als ein vereinzelter Verwandtenbesuch ist, stellt sich hier die Frage: Wer hat die unkontrollierte Öffnung der Grenze sowie die Öffnung nach Westberlin vorbereitet und erzwungen? Die Mainstream - Antworten: "das Volk" oder "die Medien als Motor der Geschichte" springen nach meiner bescheidenen Meinung deutlich zu kurz.
Am Rande:
- Der alliierte Grenzübergang "Checkpoint Charlie" wird in jener Nacht von West nach Ost gestürmt. Und das ist spannend: Westliche Militärfahrzeuge sind in der Hauptstadt der DDR auf Erkundungsfahrt, deren freien und ungehinderten Durchlaß muß die GÜST unter allen Umständen gewährleisten. Gleichzeitig bestürmen tausende Westberliner die GÜST. Die Rollgitter mußten heruntergelassen werden, niemand kommt durch ... die 50 oder 100 Mann von der Ostseite selten hier kein Problem dar, aber was wäre passiert, wenn die Alliierten von ihrer Fahrt zurückgekommen wären? Die Öffnung der GÜST wäre zwingend gewesen, der "Checkpoint Charlie" wäre auf jeden Fall gefallen. Eine Notvariante?
- Der Westberliner Rundfunksender "Radio 100" (aus der "alternativen Szene", mit Kontakten zur Partei der "Grünen), der der DDR-Opposition, mit Herrn Jahn aber auch Frau Bohley, eine Plattform bot, hatte bereits am 24.10.1989, 02.25 Uhr, zwei Wochen vor dem Termin (!) den Mauerfall "geprobt" und eine scheinbare DPA-Meldung verlesen: "Berlin, 24. Oktober 1989. Wie aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen verlautet wurde, hat die SED-Führung in einer geheimen Sitzung die völlige Öffnung der innerdeutschen Grenze in beide Richtungen beschlossen. Der Beschluss soll auf einer Pressekonferenz heute Mittag, 12 Uhr, verkündet werden und sofort wirksam sein."
- An der "Erstürmung der Bornholmer Straße" war wohl auch Herr Eppelmann dabei, er will sogar einen Schlagbaum mit angehoben haben. Übrigens, wer sich an dem Abend an den wichtigen Brennpunkten noch alles getummelt hat und haben will:
- Aram Radomski, heimlicher Kameramann für die ARD seit 1988 und "legendärer" Leipzig-Filmer, will sich zum Sprecher der Massen vor der Bornholmer Straße gemacht und mit dem GÜST-Personal verhandelt haben.
- Frau Merkel sei auf dem Rückweg von der Sauna – gegen 21 Uhr [sic!] – an der Bornholmer Straße vorbeigekommen und mit der dortigen Menschenmenge über die Grenze nach Westberlin gegangen. Irgendwann habe sie dann im Wohnzimmer einer fröhlichen Westberliner Familie gesessen: "Die wollten dann alle noch auf den Kudamm, aber ich bin lieber zurückgegangen, ich musste am nächsten Morgen früh raus."
- Herr Brinkmann beim Stoßtrupp und Jan Carpentier, Potsdamer und bereits mit Elf99 in Leipzig, ohne sein Team vorm Brandenburger Tor.
- Die Besetzung und Schändung des "Brandenburger Tores" lt. Hertle - dem Symbol der Grenztruppen - sei in dieser Nacht von Westberlinern erfolgt, die über die Friedrichstraße vom Osten her vorgedrungen seien.
- [10. November 1989, morgens, eine Arbeitsgruppe des NVR] "Plötzlich öffnete sich die Tür. Es kam ein großgewachsener, kräftiger Mann herein, den man nur selten sah. Alexander Schalck-Golodkowski, den meisten lediglich als Staatsekretär bekannt. »Big Alex« hielt eine Liste mit Vorschlägen in der Hand, wo weitere Grenzübergänge nach Westberlin geöffnet werden könnten, um den Besucherstrom besser kanalisieren zu können, wie er sagte. Ich stutzte. »Das muß doch mit den Behörden drüben abgesprochen werden.« Schalck verzog die Mundwinkel. »Es ist.« Ich weiß bis heute nicht, wann und wo und mit wem das in Westberlin beraten wurde. Daß es aber geschehen war, scheint mir unstreitig." Generaloberst Baumgarten in "Erinnerungen", Autobiographie des Chefs der Grenztruppen der DDR, 2008, S. 199, 2. korr. Auflage 2009 (Hervorhebung von mir).
- Zwischen dem 21.08. und 17.11.1989 fanden im Rahmen der obligatorischen Herbstübungsserie der NATO - Streitkräfte weltweit 81 Übungen mit ca. 600.000 Mann statt. Im Übungsraum Europa / Atlantik / Kanal nahmen Streitkräfte mit folgendem Bestand teil: 400.000 Mann, 11.750 Gefechtsfahrzeuge, 2.920 Kampfflugzeuge, 700 Schiffe und Boote.
Der "Mauerfall" ist ebensowenig aus den Transformationsprozessen 1987 - 1991 herauszulösen, wie der "Mauerbau" aus der Berlin-Krise 1958 - 1963.
Hinweis:Alles meine Meinung, viele Fakten aus der "
Chronik des Mauerfalls". Von
DDR-Seite wird die Variante "Loch in der Grenze" bestritten. Allerdings gingen vermutlich sowohl DDR- als auch SU-Vertreter von einer
kontrollierten Grenzöffnung aus. Ergänzungen und Korrekturen erfolgen laufend. Das aktuelle
Update ist vom 11. Februar 2021.