Montag, 6. August 2012

ERLEBNISBERICHTE-FOLGEN, FOLGE IV

 
 
Vorbemerkung:
Die oben aufgeführte DVD "Aus der Geschichte der 43.Fla-Rakentenbrigade 'Erich Weinert'" wird ebenfalls im August rechtzeitig zur Eröffnung der Ausstellung am 01.09.2012 in Sanitz erscheinen! In der DVD gibt es neben einer umfangreichen Dia-Show, Dokumenten zur Technik/Ausrüstung sowie den Ausstellungspostern des NVA-Teils der Ausstellung "50 Jahre Garnisonsort Sanitz" auch das bereits genannte Kapitel mit Erlebnisberichten von Ehemaligen, die eigentlich für das Mitte August diesen Jahres erscheinende Buch "43.Fla-Raketenbrigade 'Erich Weinert'-Fakten und Geschichten" vorgesehen waren, aber den Umfang des Buches gesprengt hätten. Dieter Bertuch  im Teil IV seiner Erlebnisse von 1962:
" ... In Ulan-Ude lohnten sich Besuche des Hauses der Erholung, eines schönen Stadtparks, der Wälder vor der Stadt, vor allem aber Theaterbesuche im „Burjatisches Theater für Oper und Ballett“. Das Theater war ein Prachtbau aus der Stalin-Zeit. Wunderbare Theater- und Ballettabende mit der damals sehr bekannten Tänzerin und Verdienten Künstlerin der RSFSR Saineeva konnte ich erleben. Die Opern „Fürst Igor", „Eugen Onegin", „Tschio tschio san", „Ovod", die Operetten „Zigeunerblut" und „Geschichten aus dem Wiener Wald" sowie das bezaubernde Ballett „Schwanensee" gehörten zu den großen Kunstgenüssen. Schmunzelnd konnten wir erleben, dass die Wiener Mädchen, aber auch Odette, von den schlitzäugigen burjatischen Künstlerinnen dargestellt wurden. Das schmälerte nicht deren beachtliche Leistungen. Spaßhaft nannten wir sie „Omule", nach einem schmackhaften Fisch aus dem Baikalsee. Beim Ballett „Schwanensee" hatte der Bühnenarbeiter einen Bestandteil der zauberhaften Kulisse, den Balkon, von dem aus der Prinz den Tanz der jungen Schwäne beobachtete, nicht fest genug anbringen lassen. Bei der Szene brach der Balkon aus seiner Halterung. Mit ihm stürzte der Prinz in die Tiefe. Nach wenigen Minuten konnte der leicht lädierte Prinz ebenerdig weiter machen. So was gehörte bei aller Kunst irgendwie dazu. In „Ovod" fiel ein offenbar betrunkener männlicher Theatergast vom ersten Balkon in das Parterre und brach sich dabei das Genick. Er wurde aus dem Saal getragen. Die Vorstellungsunterbrechung dauerte eine knappe halbe Stunde. Dann ging das Spektakel weiter als ob nichts geschehen wäre. 

Vor der Großstadt Ulan-Ude befanden sich in herrlicher Natur Ausflugs- und Erholungsziele für die Einwohner der Stadt, welche auch öffentlich benutzt werden durften. Datschen, Waldstücke mit einem großen Pilz- und Beerenreichtum, Tanzflächen, Spiel- und Sportplätze, ein Pferdehof und anderes ergänzten das Gebiet zu einem sehr schönen Objekt. Auf einer Tanzfläche wollte mir ein junges, hübsches Russenmädel den „neuen sowjetischen Tanz Charleston" beibringen, wenn ich ihr als Gegenleistung den „DDR- Lipsi“ lehren könne. Ich erklärte ihr, woher der Charleston entstanden sei und dass er auch schon lange getanzt werde. Wir beendeten den Tanzkontakt, als sie daraufhin etwas beleidigt reagierte. Ebenfalls vor der Stadt befand sich der Flugplatz, der die Strecke Ulan- Ude- Irkutsk bediente und nicht nur menschliche Passagiere, sondern auch Schafe und anderes Getier verfrachtete. Im Restaurant konnte man relativ gut europäisch, aber auch teuer speisen. Hier wurde das Hochzeitsglück zwischen dem Dolmetscher der Gruppe Technische Abteilung, Helmut Schneider aus Meiningen und seiner Galja, einer bildhübschen Burjatrussin sowie von Wolfgang Metzler aus meiner Gruppe mit Tina, einer echten Burjatin geschmiedet. Eine schöne Hochzeitsfeier, wenn auch in bescheidenen Verhältnissen. Beide Bräute trugen geschmackvolle Kleider und Brautsträuße aus herrlichen Wiesenblumen, aussehend wie Orchideen und von den Bräutigamen selbst gepflückt. An einem Wochenende im Juli luden uns die sowjetischen Gastgeber zu einer Omnibusfahrt an den Baikalsee ein. Diese nahmen wir sehr erfreut an. Mit vier Militärbussen fuhren wir, einschließlich der bulgarischen und koreanischen Freunde durch die Taiga bis zu einer Übersetzstelle über die Selenga, einer uns nicht ungefährlich anmutenden Fährpassage. Dort fuhren die Busse auf eine floßähnliche Fähre. Wir setzten oder hockten uns ebenfalls darauf und erreichten etwas ängstlich das andere Ufer. Durch zwei Taigadörfchen, in denen wir rasteten und fotografierten, fuhren wir weiter zu einem kleineren See vor dem herrlichen Baikal. Das war ein nur halstiefes, aber sehr fischreiches Gewässer. Die Bulgaren und wir angelten, lediglich mit einer Schnur und mit Fischaugen als Köder. Unvorstellbar erfolgreich waren die Fänge, Grundlage für unsere am Abend zubereitete Fischsuppe, für die „Ucha". Unsere beiden verantwortlichen Lehrer und der alte „Ritschratsch“ waren Spezialisten. Sie sammelten Kräuter in der Taiga. Die Suppe schmeckte vorzüglich. Am Lagerfeuer mit Wodka und Wein verbrachten wir die Nacht. Früh am Morgen, noch etwas übermüdet, ging es die wenigen Kilometer weiter bis zum Baikalsee, zu Idyllen am heiligen Meer. Viel zu beschreiben gibt es nicht, weil ich nicht weiß, wo ich anfangen und wo ich aufhören sollte. Ein „phantastisch" soll genügen. Am späten Abend erreichten wir wieder „Garnisonaja“. Ein unvergessliches Erlebnis war uns geschenkt worden, eines, was damals nicht jeder haben konnte. 

Als der stramme Winter 1962 zu Ende ging bzw. viel milder wurde, die Natur dem Frühling Platz machte, trug ich im Ausgang Zivil. Eine enge schwarze Hose, ein schönes Sakko sowie ein im „Univermag“ gekaufter chinesischer Gabardinemantel, erschwinglich im Preis, machten mich flott. Ich fiel nicht nur durch meine Kleidung auf, sondern auch durch meine damals rotblonden Haare und den blassen Teint. Der Sprache nach ordneten mich die Einheimischen zunächst als Sowjetbürger aus den baltischen Unionsrepubliken ein. Wenn es nicht zu verräterisch wurde, ließ ich diese zumeist in diesem Glauben. Manchmal war es besser, sich nicht sofort als Deutscher erkennen zu geben. Selbst im fernen Ula- Ude war der Angriffskrieg Nazi-Deutschlands gegen die Sowjetunion noch nicht vergessen. Es konnte aber auch vorkommen, dass ein herzliches „Rot Front” ertönte, wenn man die Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik offenbarte. Die Grüße „Heil Hitler" und die Rufe „SS" und „Faschist" mussten wir auch anhören, wenn auch nur selten. Meist trugen mehr oder minder objektiv gedrehte Filme dazu bei. Zu dritt machten wir den Fehler, uniformiert in ein Kino zu gehen, um den Film „Unsterbliche Festung Brest" anzusehen. Ich war froh, wieder gesund in der Garnison angekommen zu sein! Allein hätten wir es wahrscheinlich nicht geschafft. Ungeschminkt und an Hand von Dokumentaraufnahmen wurden schlimme Verbrechen der deutschen Wehrmacht gezeigt. Unsere eigene Uniform erinnerte in Farbe und Schnitt fatal an die Wehrmachtsuniform. Ein Besuch einer Kulturveranstaltung im Klub des Glaswerkes Ulan-Ude brachte uns ein unschönes Ende. Wir waren zu fünft, darunter unser Major Ulrich Grell. Während viele Mädchen versuchten, mit uns in Kontakt zu kommen, wurden wir von Männern sehr argwöhnisch beäugt und häufig wie versehentlich gerempelt. Kurz vor Schluss des Abends betrat eine Patrouille von Ordnungskräften den Saal. Das war gut. Als Grell zur Toilette ging, standen zwei Burschen mit gezücktem Messer hinter ihm und sprachen drohend: „Major ist noch mehr als SS- Unterscharführer, weißt Du, wie man schlachtet ein Schwein?" „Ed“ Waldner und ich, vor allem aber die Ordnungskräfte verhinderten eine schlimmere Begebenheit. Der Leiter der Patrouille bat uns, diesen Klub doch künftig zu meiden. Ulan-Ude hatte damals nicht nur den Ruf einer bedeutenden Industriestadt im Fernen Osten der UdSSR, sie war auch auf Grund der hier befindlichen wichtigen Rüstungsbetriebe eine sogenannte geschlossene Stadt. Im Glaswerk wurden Spezialgläser für Flugzeuge und Panzer gefertigt. Wahrscheinlich gab es auch ein größeres Panzerwerk und andere Betriebe, die der strengsten Geheimhaltung unterlagen. 

Unsere russischen und burjatischen Gastgeber kümmerten sich gut um uns. Wir erhielten für wenig Geld zusätzlich Waren, die andere Bewohner, besonders die Bevölkerung, nicht oder nur höchst selten kaufen konnten. Pfirsiche in Sirup ausländischer Erzeugung, auch Rindfleisch in Dosen bereicherten unser Speiseangebot. Die offiziellen Speisepläne in der „Stolovaja“ hatten meist Hammelfleisch oder Eiergerichte, auch Würstchen im Angebot. Die Art der Zubereitung ärgerte uns öfters. Fast alle Fleischgerichte waren boulettenähnlich, eben „rublenij", durch den Wolf gedreht. Eine große Delikatesse war der Fisch Omul. Ob gekocht, eingelegt, gebraten oder schinkenähnlich geräuchert, ich habe ihn in jeder Variante genossen. Der Omul war nur hier im Baikalsee „zu Hause“, wurde tonnenweise gefangen und verarbeitet. Ein Versuch, diesen wahren Leckerbissen im Baltischen Meer anzusiedeln, war gescheitert. Der Omul brauchte das damals sehr saubere, trinkbare Wasser des Baikals. Heute wird die Qualität des Baikalwassers leider auch nicht mehr so sein. Das Warenangebot im großen Kaufhaus in der Stadtmitte sowie in kleineren Geschäften war für die damaligen Verhältnisse recht gut. Die notwenigen Lebensmittel gab es und auch mehr oder minder modische und geschmackvolle Bekleidung Für uns ein großer Renner waren nahtlose Damenstrümpfe Ein paar Mal schickte ich je einen Strumpf im Briefkuvert nach Hause. Alles kam an und bereitete Freude, da es bei uns noch keine Massenware war. Sehr verlockend war das billige und reiche Angebot an Goldwaren. Ich war auf einen schönen Damenring scharf, aber auch auf solche ehemaligen Luxusartikel wie eine Spiegelreflexkamera und einen Elektrorasierer. Das waren teuere Engpässe in der DDR. Ich leistete mir diese Dinge. Den Rasierapparat „Charkiv" konnte ich nur erstehen, wenn ich ihn in einer Geschenkpackung mit 200 Gramm Kaviar für insgesamt dreißig Rubel kaufte. Bei uns und auch wenig später in der Sowjetunion unvorstellbar. Die Verbindung zu den Lieben zu Hause hielt ich durch fast tägliches Briefschreiben. Regelmäßig kamen auch die Antworten an, auf einem etwa acht Tage andauernden Postweg. Zeitungen wurden mir ebenfalls geschickt, so dass ich das Geschehen in der Heimat verfolgen konnte. Besonders der Fußballsport hatte es mir angetan, auch wenn das Geschehen natürlich mit Verzögerung bei uns ankam. 

Gesundheitlich hatte ich trotz der völlig anderen Bedingungen keine größeren Probleme. Zwei diesbezügliche Episoden sind dennoch erzählenswert. Zu Beginn des Kurses wurden wir mit einem so genannten Dreikomponenten-Serum geimpft, das bei den meisten eine schon durch den Arzt angekündigte extreme Wirkung hatte. Fünf blieben „auf den Beinen", darunter ich. Die anderen laborierten die vorhergesagten vier Tage an starkem Unwohlsein. Wogegen wir geimpft wurden, weiß ich heute noch nicht. Trotz meiner damaligen Robustheit wurde ich ein kleines Opfer des medizinischen Dienstes in der Garnison. Mich plagten im tiefsten kalten Winter heftige Zahnschmerzen. Dienstag und Donnerstag jeder Woche waren Sprechtage bei einer Zahnärztin im „Santschast“, dem Med.-Punkt. Leider war mir bis dahin nicht bekannt, dass am Dienstag generell die Zähne plombiert und am Donnerstag nur extrahiert wurde. Ich ging beide Male jeweils donnerstags und verlor auf diese Weise zwei Backenzähne. Zum Prozedere: ich musste mich auf eine Art Küchenstuhl setzen, vor mir ein Zinkblecheimer, über mich gebeugt die stark vermummte Ärztin mit Spritze und Zange. Hinter mir positionierte sich eine ebenso vermummte, körperlich gut ausgestattete Schwester. Mein Kopf ruhte zwischen ihren gewaltigen Busen, so dass ich nicht nach rechts oder links ausweichen konnte. Mit viel Blut im Mund, welches fast gefror, überstand ich diese Tortur! Die Abschlussprüfungen für unseren Kurs fanden Ende August statt. Ich bestand sie mit einem soliden „Gut". Etwas Prüfungspech war zwar dabei, denn die Wirkungsweise des Sechsschlüsselvervielfachers im System der Kommandoerarbeitung der Raketenleitstation und der Zeitgenerator im System Kommandosender bereiteten nicht nur mir ein paar Kopfschmerzen. Freudig, aber auch ein wenig traurig fuhren, wir dann zurück Richtung Heimat. In Moskau genehmigte man uns etwa anderthalb Tage der Erholung im Hotel „Ostankino". Während unserer Rückfahrt erkrankte ich nach wenigen Zugkilometern an einer fieberhaften Erkältung. Wenn es nach einem Offizier aus der Gruppe gegangen wäre, hätte man mich bereits in Irkutsk aus dem Zug nehmen sollen, um in ein Lazarett gebracht zu werden. Dieser Offizier dachte aber weniger an meine Gesundheit, sondern an seine. Er war hypochondrisch veranlagt und fürchtete eine Ansteckung, die seine Rückreise nach Hause beeinträchtigen könnte. Unser Major Kresse verhinderte das. Über Zugfunk wurde in Irkutsk ein medizinisches Team angefordert. Wenige Minuten nach Einfahrt der Transsib in den Irkutsker Bahnhof kamen ein Arzt und zwei Schwestern in das Abteil, um nach mir zu sehen. Sie maßen die Temperatur, fühlten Puls und maßen Blutdruck und versorgten mich mit einer Spritze und Medikamenten. In Krasnojarsk und Nowosibirsk geschah gleiches. In Moskau war ich wieder gesund. Alle anderen blieben es auch. Das war ein tolles Erlebnis und erweckte in mir tiefe Dankbarkeit Heute noch betrachte ich ab und zu ein Foto, welches mich nach überstandener Krankheit schlank und blass im Gang des Waggons der Trassib zeigt. Nach meiner erfolgreich verlaufenden Kursabschlussprüfung in Ulan-Ude besaß ich die Qualifikation für die Dienststellung eines Kompaniechefs der Funktechnischen Kompanie einer Feuerabteilung der Fla- Raketentruppen der Luftverteidigung. Wenig später wurde in die Militärterminologie für diese taktische Einheit der Fla- Raketentruppen die Bezeichnung Fla- Raketenabteilung eingeführt. 

Welcher Einsatzort war jetzt für mich vorgesehen? Klar war bereits, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr Pinnow sein würde. Wieder kamen die Fragen nach dem Wohin und ob es am neuen Standort ausreichend Wohnraum gibt. Inzwischen wusste ich auch, dass eine Fla-Raketenabteilung sich nicht auf dem Marktplatz einer großen Stadt befinden würde, sondern irgendwo im Wald, oft sehr weit entfernt von einer Ortschaft. Ich hatte aber auch bereits erfahren, dass es dabei große Unterschiede gab. Und zwar sowohl von der Landschaft und Umgebung als auch rein geografisch. Ich wusste noch nicht, dass ich in meiner dreiunddreißigjährigen Dienstzeit mindesten 8o Prozent aller Standorte mit allen zivilen Vor- und Nachteilen kennen lernen durfte, ob als aktiv Handelnder oder als Kontrolloffizier, Schiedsrichter, Beratender und Lehrer. Ich weiß, dass für meine nach dem Kurs folgende langjährige erfolgreiche Dienstzeit in den Fla- Raketentruppen der Luftverteidigung der DDR als Stabschef, Kommandeur, im Kommandostab und als Lehrstuhlleiter an der Offiziershochschule ein stabiles Fundament im sibirischen Ulan-Ude gelegt worden war. Das anspruchsvolle Studium, aber auch die vielen Erlebnisse in der Freizeit mit einfachen russischen und burjatischen Menschen, die herrliche Natur, der hautnah erlebte Internationalismus und die Waffenbrüderschaft bleiben in tiefer und dankbarer Erinnerung. Sie kann mir und den ehemaligen Mitstreitern nicht genommen werden..." - Fortsetzung folgt!

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