Freitag, 20. Juli 2012

ERLEBNISBERICHTE-FOLGEN, FOLGE III



 
Vorbemerkung:
In der vorliegenden Reihe ERLEBNISBERICHTE-FOLGEN sind Beiträge zum Lesen erfasst, die eigentlich für das Mitte August diesen Jahres erscheinende Buch "43.Fla-Raketenbrigade 'Erich Weinert'-Fakten und Geschichten" vorgesehen waren, aber den Umfang des Buches gesprengt hätten.
Dieter Bertuch macht den Anfang in dieser Reihe, heute Teil III seiner Erlebnisse von 1962:

" ...Unsere Lehrer instruierten uns recht gut über alle Systeme der Raketenleitstation. Das Lesen der Übersichtsschaltpläne, der Stromlaufpläne, Grundlagen der Automatisierungstechnik sowie Fehlersuche und Fehlerbeseitigung an den Systemen Leitkabine, Koordinatensystem, System der Kommandoerarbeitung, System Kommandosender und Sende-Empfangseinrichtung forderten uns voll. Ich bemühte mich mindestens die Note 4, unserem „Gut" adäquat, zu erreichen, was auch gelang. Die Temperaturen in Sibirien schwankten zur Winterzeit teilweise extrem. Minus 25 Grad bis minus 41 Grad waren das Übliche. Unsere Sonderausrüstung bestand lediglich aus einknöpfbarem Futter für die Uniformmäntel, aus Fäustlingen und einer Pelzmütze, die erst später als Standard in die Bekleidungsordnung der NVA aufgenommen wurde. Da steingraue Mützen nicht aufzutreiben waren, erhielten wir grüne Lederolmützen mit braunem Kunstpelz. Sie nützten, wenn es auch ulkig aussah. Der Übergang von einer Jahreszeit zur anderen oder von Tag zur Nacht erfolgte mit krassen Temperaturunterschieden. Dabei waren die 38 Grad Plusgrade unangenehmer zu überstehen als die 40 Grad Minus oder der einmalige Extremwert von minus 53 Grad. Das in dieser Region herrschende kontinentale Klima brachte uns eigentlich keine größeren Schwierigkeiten, kaum Erkältungserscheinungen. 

Das langsame Auftauen des Baikalsees machte sich selbst bei uns bemerkbar. Viel und starker Wind, auch in Böen, und viel Staub beeinträchtigten jedoch das Wohlbefinden und die seelische Verfassung mehr als die Temperaturen. In den heißen Wochen lag öfters ein Brandgeruch in der Luft, den wir nicht deuten konnten. Einheimische klärten uns auf, die Taiga brenne. Das sei aber nicht sonderlich schlimm. Ernst würde es erst, wenn eine Fläche von anderen Ausmaßen brennen würde, z.B. wie die der Deutschen Demokratischen Republik! Dann müsse man was tun, alles andere würde die Natur selbst regeln. In unserer Freizeit, die wir recht oft auf eigenen Entschluss verlängerten ohne dabei die Ausbildung zu vernachlässigen, waren wir oft in der wunderschönen Natur unterwegs. Da wir alle Jahreszeiten während unseres Aufenthaltes in Ulan-Ude erlebten, waren es unvergessliche Eindrücke. Es gab viele Sehenswürdigkeiten und so strebten wir auch nach Abenteuern. Tagsüber konnten wir das mit einem riesigen Sowjetstern versehene Kasernentor offiziell durch die Wache passieren. Abends sollten wir eigentlich bis 24 Uhr zurück sein. „Ritschratsch“ und auch Volodja argumentierten, das sei auch wegen der eigenen Sicherheit erforderlich. Aber für junge Männer und besonders für die ungebundenen, lockten außer der Natur auch die anderen natürlichen weiblichen Schönheiten des Landes. Es gab auch Einladungen von Familien, denen wir gerne nachkamen Wir hatten Kontakte bis in bekannte Künstlerkreise der Stadt. In den ersten Wochen führte „Ritschratsch“ sporadische Kontrollen durch, ob alle in den Betten lagen bzw. zumindest im Blockhaus anwesend waren. Wir tricksten und präparierten hin und wieder das Bett eines Ausgängers so, dass man annehmen konnte, er läge darin. Unseren Volodja „bestachen" wir ab und an. Als Soldat traute er sich auch selten, etwas zur Einhaltung oder Missachtung des „moralischen Kodexes" durch uns zu äußern. „Ganz Schlimme" stiegen sogar durch das kleine Fenster der Toilette ein und aus. Landschaftlich ist es eine herrliche Gegend, nicht ohne Grund die „Sibirische Schweiz" genannt. Die Straße zwischen der Garnison und der großen Stadt erinnerte mich immer an unsere Thüringer Waldstraßen. Oft wanderten wir entlang der Bahnlinie der Transsib bis zum Schild 5632. Diese Zahl besagte, soweit waren wir von Moskau entfernt. "Fern von Moskau", wie ein alter Film hieß. 

Unmittelbar vor den Toren zur Garnison fließt die Selenga, ein riesiger Nebenfluss der Angara, die in den Baikalsee mündet. Im Winter war die Selenga fest zugefroren, so dass wir auf ihrem Eis selbst an das andere Ufer gelangen konnten. Im eisigen Winter ein schöner Weg. Meistens waren wir zu Fünft oder zu Sechst: Ronald Harkner, Wolfgang Metzler, Heinz Schmidt, Gerhard Giese, Edmund Waldner und ich. Bauern und Fischer luden uns öfters ein, zum Ausruhen und Aufwärmen mit ihnen ein großes Glas des Selbstgebrannten zu trinken. Wir nahmen keine gesundheitlichen Schäden. Als die Selenga auftaute und die Badesaison begann, nur wenige Wochen andauernd, schwammen wir in ihrem Wasser. In der Mitte des Stromes befand sich eine grüne Insel.  Ich schwamm leidenschaftlich gern, aber nicht sehr kräftig. Meine „Kumpels“ erreichten vom Ufer aus auf ziemlich direktem Weg diese Insel. Ich ging jedoch einige Dutzend Meter weiter erst ins Wasser, um von dort im spitzen Winkel, die starke Strömung abschätzend, den Inselrand zu erreichen. Einmal war die Strömung allerdings so schnell, dass es mich trotz aller Bemühungen immer weiter abtrieb. Meine Schwimmbewegungen wurden immer hektischer. Mir fielen Gespräche ein: wie erzählt wurde, in der Selenga würden tote Pferde und giftige Schlangen angeschwemmt. Das beunruhigte mich noch mehr. Sowjetische Offiziere, die ebenfalls badeten und die wahrscheinlich in den Wohnhäusern am Ufer der Selenga ihr Heim hatten, machten bereits Boote los, um mich bergen zu können. Ich zwang mich zur Ruhe und nutzte die Strömung, um etwa einen halben Kilometer weiter flussabwärts doch noch an das Ufer zu gelangen. Am nächsten Tag wurde das „Vorkommnis" ohne Namensnennung ausgewertet. Den „Demokraten" verbot man das Schwimmen im Strom. Natürlich hielten wir uns nicht daran. Ich wurde lediglich noch vorsichtiger. Eine Schnapsidee von uns war auch, als wir zu viert versuchten, ein Floß für eine Fahrt auf der Selenga zu bauen. Ronald Harkner hatte einen Kolchosschmied kennengelernt, der einige Kilometer stromaufwärts wohnte. Dieser wollte uns Krampen zur Verfügung stellen, um die Baumstämme, die fast überall am Ufer herumlagen, zu verbinden. An einem Sonntagvormittag vollendeten wir das Konstrukt. Aber als dieses wahrscheinlich schwimmfähige Gebilde vor uns lag, gestanden wir uns ein, doch einen mächtigen Bammel zu haben. Wir zogen eine zünftige „Sause“ mit dem Schmied vor. Dieser lachte schallend und meinte, dass wir eine vernünftige Entscheidung getroffen hätten. Den Linienbus nutzten wir zur Rückfahrt. 

Die unmittelbare Umgebung unseres Militärstädtchens, des „Voennij gorodok", bestand nicht nur aus Selenga und Transsibirischer Eisenbahn, sondern auch aus den einfachen, unterschiedlich gut erhaltenen und gepflegten Holzhäusern der Einwohner. Es waren Russen, Burjaten und Mischehen, die dort lebte. Es gab eine relativ moderne Schule und einen Gemischtwarenladen, einstöckig und aus Holz errichtet. Dieser war an den Wochenenden unsere „Wodka- Tanke", wenn es die Flasche mit dem „Wässerchen" für drei Rubel und zwanzig Kopeken gab. Sehr häufig gehörte es aber zu den vielen sogenannten „Defiziten" in der Versorgung der Bevölkerung. Die Lehmwege in der Siedlung waren bei Schneeschmelze und Regenwetter tief aufgeweicht und glichen mehr kleinen Bächen und Tümpeln. Gerne ging ich zu einem Denkmal mit dem typischen sowjetischen Pathos in den Figuren von Kämpfern und Opfern, die mich aber dennoch immer stark berührten. Das „Denkmal des ewigen Ruhmes" war den Internationalisten aus China, Ungarn, der Tschechei, Deutschland, Österreich und aus anderen Ländern gewidmet, die hier im Zeitraum vom 18. bis 20.August 1918 für die Sowjetmacht gefallen waren. Abende an der Selenga, wenn die Sonne unterging und das Abendrot oder die Gelbfärbung des Himmels die Umgebung in romantisches Licht versetzten, erweckten Sehnsüchte nach zu Hause, nach den Lieben ... - Fortsetzung folgt! Quelle Fotos: Ludwig Sende

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