Vorbemerkung:
In der Reihe ERLEBNISBERICHTE-FOLGEN heute die FOLGE II, gleichzeitig der Teil II des Erlebnisberichtes von Dieter Bertuch. Es geht um die neue Waffengattung Fla-Raketentruppen der Luftverteidigung der NVA und Ulan-Ude 1962:
" ... Die Landschaft am Baikalsee war im Winter traumhaft schön. Ich hoffte sie noch im Sommer und im Herbst kennen zu lernen, was später auch, leider nur oberflächlich gelang. In Ulan-Ude auf dem Bahnhof angekommen, empfing uns ein sehr aufgeregt wirkender sowjetischer Oberst, namens Rasarejev. Später wurde er von uns nur „Ritschratsch" genannt. Er war für uns verantwortlich und ein gut zu leidender, emsig um uns bemühter Vorgesetzter. Den wir aber bald über alle Maßen austricksten, wenn es um unsere häufigen Ausgänge in die Stadt und andere Freizeitmaßnahmen ging. Seine erste Frage war, ob auch der Genosse Konni Kruse wieder dabei sei. Als wir das verneinten, erhellte sich sein Gesicht. Sein Stoßseufzer, dass er Gott danken würde, erweckte Neugier zu den Gründen. Konni weilte bereits bei dem ersten Kurs in Ulan-Ude und zwar als Dolmetscher. Wir waren jetzt der zweite Durchgang. Der Dolmetscher liebte sehr innig nicht nur die UdSSR und ihre Töchter, sondern auch und besonders das alkoholische Nationalgetränk. Unseren Karl- Heinz Kirpeit, als Dolmetscher auch zum zweiten Mal vor Ort, begrüßte der Oberst dagegen sehr freundlich. Kirpeit, eigentlich Kirpeitis, kam aus Litauen. Wahrscheinlich war seine Familie Vorläuferin der späteren deutschstämmigen Spätaussiedler aus den Republiken der ehemaligen Sowjetunion. Karl- Heinz „ Shenja" war unserer Gruppe „Funktechnische Kompanie der Fla- Raketenabteilung" als Dolmetscher zugeteilt. Durch seinen hohen Bekanntheitsgrad in der etwa 200.000 Einwohner zählenden Stadt und vielfältiger geselliger Treffen bat er uns des Öfteren, auf seine Hilfe zu verzichten. Damals fand das nicht unser aller Wohlgefallen. Bald merkten wir jedoch, dass er uns auf diesem indirekten Weg einen Gefallen erwies. Wir waren nämlich gezwungen, selbst in der Sprache unserer Lehrer zu reden und zu verstehen. Das übte ungemein.
Unsere Lehrer waren sehr gut mit der Materie vertraute Spezialisten an ihren Waffensystemen und auch gute Pädagogen. In besonders guter Erinnerung blieben mir Kapitan Builov ( Hauptmann Builov) und die Podpolkovnike Zaineev, Äppelstein und Lutfulin (Oberstleutnante Zaineev usw.). Auch der Spaß aus seriösen Gründen und reiner Jux kamen bei und mit ihnen nicht zu kurz. Bei einer Zwischenprüfung stolperte zum Beispiel ein Prüfling. Kirpeit, mit dem Stoff bereits vertraut, sagte auf Deutsch „ Rede irgendwas und ich werde das Erforderliche übersetzen!" Kapitan Builov, bisher durch kein Wort in Deutsch aufgefallen, hörte sich zwei, drei Sätze an und sagte in unserer Sprache „Genosse Kirpeit, ich weiß nicht genau, was Genosse X gesagt hat, aber das was Sie übersetzten, hat er nicht gesagt!" Außer X und Kirpeit lachten alle schallend, auch Builov. Podpolkovnik Lutfulin, ein Tatar, großer Fachmann in der Lehre vom Schießen mit gelenkten Raketen, pflegte einen ganz lockeren Stil. Er schritt stets so gemächlich, dass man ihm beim Laufen die Schuhe besohlen konnte. Wenn er das Ausbildungskabinett betrat, schleuderte er seinen kleinen Lehrerkoffer so exakt aus etwa zwei Metern auf den Tisch, dass dieser genau auf Kante des Tisches liegen blieb. Das musste er regelrecht trainiert haben. Unser tägliches bewunderndes „Oooh!", auch aus den Kehlen der mit uns in der Gruppe studierenden bulgarischen und koreanischen Offiziere, beantwortete er mit seiner gutturalen Stimme mit der Begrüßung und der stereotypen Frage, wer für den Abend noch keine Adresse hätte, um gut zu feiern. Das gelte aber nur für die Genossen aus der Nationalen Volksarmee, die Koreaner müssten ja sowieso lernen. Die Bulgaren brauchten keine Adressen, weil sie schon genug davon hätten.
Zu Beginn des Lehrganges sah der Lehrplan vierzehn Stunden russische Konversation vor. Dieser lockere Sprachunterricht wurde von einer Zivillehrerin gegeben, einem nicht mehr ganz jungen Fräulein. Teilnehmen mussten wir Deutsche und die Koreaner. Die Bulgaren wurden wegen ihrer slawischen Sprache und den damit verbundenen besseren Voraussetzungen befreit. Sie studierten selbständig. Eine Methode bestand darin, sich an das Fenster stellen und zu schildern, was der Betreffende sah. Was sieht man auf einem großen Kasernenhof außer den Gebäuden und ab und zu auch Uniformierten? Somit waren die Schilderungen immer sehr eintönig und wenig lehrreich. Als ein kleiner Koreaner an der Reihe war, fing es heftig zu regnen an. Der arme Kerl hatte offenbar die unanständige Redewendung „chuijovaja pogoda" aufgeschnappt. Das Wort in Gegenwart einer Dame gesprochen, galt als zotig und obszön. Jedenfalls kreischte die Lehrerin auf. „Kakaja pogoda?" Kim wiederholte treuherzig, dass eben ein gerade solches Wetter beginnen würde. Während wir vor Lachen fast unter die Bänke rutschten, verließ Valentina Petrowna den Raum. Mit „Ritschratsch“ kam sie einige Minuten später wieder, immer noch zornesrot im Gesicht! In „Ritschratsch‘s“ Gesichtsausdruck und aus seinen Augen blitzte der Schalk. Er konnte das Geschehene richtig einordnen. Kim war inzwischen durch einen sprachkundigen Landsmann zum Lapsus aufgeklärt worden. Eine formvollendete Entschuldigung von Kim wurde übersetzt und beendete dann auch die Spannungen. Wenn es wieder einmal regnete, begann für uns nicht das „chuijovaja pogoda“, sondern das „korejskaja“, das koreanische Wetter. Während die Bulgaren meist hohe Dienstgrade trugen, sah es bei den Koreanern ähnlich wie bei uns aus. Außer deren Vorgesetzter Oberst „O“ bestand die Gruppe aus Unterleutnanten, Leutnanten, je einem Oberleutnant Hauptmann und Major. Oberst „O“ war gleichzeitig der Kursälteste und damit unser Vorgesetzter. Unser Nationalitätenälteste war Major Heinz Kresse, „Opa" genannt. Unser Klassenältester war der sehr europäisch wirkende und auch so denkende Major der koreanischen Volksarmee An En Rai. Rai hatte bereits ein mehrjähriges Studium in Leningrad absolviert. Er war Energetiker und mit den Sitten und Gebräuchen der großen Sowjetunion bestens vertraut. Seine Qualifikation als Diplomingenieur und Kandidat der technischen Wissenschaften machte ihm das Lernen ziemlich leicht. Er half schwächeren Kursanten, nicht nur seinen Landsleuten, wo er nur konnte und verblieb in meiner Erinnerung als ein wahrhaft guter Mensch. Leider war An En Rai stark den strengen Sitten und der harten militärischen Praxis mit Parteizwang in der koreanischen Gruppe ausgesetzt. Dort führte nicht Oberst „O“ das Regime, sondern der im Dienstgrad niedere Sekretär der Koreanischen Partei der Arbeit, wahrscheinlich auch als Angehöriger des koreanischen Abwehrdienstes beauftragt. Einmal gelang es uns, den vorgesetzten koreanischen Freund zu überreden, mit uns in Ulan- Ude auszugehen. Wie üblich blieben wir im Restaurant „Baikal" hängen. Wir aßen und tranken gut und reichlich. Zwei Tische von uns entfernt saß eine sowjetische Offiziersgruppe. Es dauerte nicht lange, die Tische wurden zusammen gerückt und es wurde ein spontanes Fest der Waffenbrüderschaft gefeiert. Zwei Bulgaren gesellten sich ebenfalls dazu, so dass wir mit vierzehn Personen repräsentativ vertreten waren. Da es an diesem Tag reichlich guten Wodka gab, sonst ein „Defizit", wie vieles andere auch, sprachen alle diesem ordentlich zu. Mit und ohne Trinkspruch wurde gebechert, gelacht, gesungen und die Freundschaft geschmiedet. Das geschah so intensiv, dass ich kaum noch wusste, wie ich mit mindestens vier weiteren Freunden im Wolgataxi unsere „Garnisonaja" vor den Toren der Stadt erreicht hatte.
Taumelnd fielen wir in die Betten. Nach einigen Minuten überlegte ich mir, doch noch ein Minimum an Hygiene zu erledigen. Das große Licht wollte ich nicht anmachen, um die anderen nicht zu wecken. Aber eine Tischlampe sollte es schon sein. Diese hatte aber einen Defekt im Schalter und musste mit dem Stecker zum Leuchten und zum Ausschalten bedient werden. Ich erwischte einen Stecker und verband ihn mit dem Netz. Die Lampe brannte nicht. Fluchend über den Zustand ging ich zum Waschraum. Nach wenigen Minuten sah ich dann im Zimmer etwas Glühendes auf dem mit einer Kunststoffdecke bedeckten Tisch. Ich dachte, eine Sternschnuppe, jetzt musst du Dir was wünschen. Schlagartig war ich nüchtern. Ich hatte den herumliegenden Tauchsieder zum Brennen gebracht. Seine Konturen waren bereits durch die Decke auf der Tischplatte eingebrannt. Mit der Wasserkaraffe löschte ich den Entstehungsbrand, der im Blockhaus bestimmt größere Schäden und mir böses Ungemach eingebracht hätte. Ich schämte mich zutiefst. Es gab keinerlei Vorwürfe. Den Tauchsieder ersetzte ich. Die Tischdecke wurde von unserer Ordonanz Wolodja, einem Soldaten getauscht. Der wurde von mir mit ein paar guten Wäschestücken aus meiner Ausstattung beschenkt und war glücklich. „Ritschratsch“ erfuhr von der ganzen Angelegenheit aber nichts. Meine Zimmergenossen und Kumpel des vorherigen Abends lachten nur. Als ich nach dieser „Sause“ unseren Koreaner fragte, wie ihm alles bekommen sei, antwortete er mir, dass es für ihn ein einmaliges Erlebnis gewesen wäre. Das „einmalig" war aber sehr doppelsinnig. Er erhielt eine militärische Strafe und ein Parteiverfahren, weil er das Kollektiv verlassen hatte. Überhaupt war die koreanische Gruppe bei aller asiatischen Freundlichkeit sehr extrem eingestellt. Alle lernten sehr verbissen, um ihre Chancen auf gutes Abschneiden und eventuelle Beförderung im Dienstgrad und in der Dienststellung zu steigern. In diesen neun Monaten gab es für sie nur einen einzigen Ausgang in die Stadt. Dieser war ein gemeinsamer Theaterbesuch, verbunden mit einer Werksbesichtigung. Im Theater wurde die typisch russische Nationaloper „Fürst Igor" aufgeführt, die überhaupt nicht zur Mentalität der koreanischen Genossen passte. Während wir im Durchschnitt 130 Rubel Löhnung erhielten, damals ein guter Betrag für einen Monat, erhielten die Koreaner etwa 90 Rubel. Dennoch fasste die koreanische Parteigruppe den Beschluss, dass jeder monatlich 10 Rubel an den Staat abführt, um mitzuhelfen, sowjetische Waffensysteme kaufen zu können..." - Fortsetzung folgt!
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