Sonntag, 15. Juli 2012

ERLEBNISBERICHTE-FOLGEN



 
 

 Vorbemerkung:
Wir hatten bereits berichtet, dass in Vorbereitung des Buches "43.Fla-Raketenbrigade 'Erich Weinert'-Fakten und Geschichten" uns eine Vielzahl von Erlebnisberichten erreichten, die letzlich den Rahmen des vorgesehenen Umfangs sprengten. Es war daher nicht möglich, alle Beiträge in das Manuskript aufzunehmen-wir hätten zwei Bücher daraus machen können! Es wäre schade, auf diese interessanten Erlebnisse und Erfahrungen zu verzichten. Sind sie doch ein Teil menschlicher Biographien und Beschreibung von Zeitgeschichte. Deshalb haben wir uns entschlossen, diese unveröffentlichten Beiträge auf die Seite SANITZ als Thema ERLEBNISBERICHTE-FOLGEN zu stellen und zusätzlich in einer DVD "Aus der Geschichte der 43.FRBr" zu erfassen. Die DVD wird zur Eröffnung der Ausstellung "50 Jahre Garnisonsort Sanitz" am 01. September 2012 angeboten und auch danach bestellbar sein. Den Anfang der Erinnerungsberichte macht heute Dieter Bertuch über seine Erlebnisse an der Wiege der Fla-Raketentruppen der NVA-in Ulan-Ude am Baikalsee (Teil I):

 "Als einer der Pioniere einer neuen Waffengattung der Luftverteidigung im fernen Sibirien ...
Fast neunundvierzig Jahre sind vergangen, als ich meine erste größere und verantwortungsvolle Aufgabe übertragen bekam und diese erfüllen konnte. Es bewegt mich noch heute mit Stolz, der erste Kompaniechef einer Offiziersschülerkompanie gewesen zu sein und mitgeholfen zu haben, dass diese Offiziersschüler des 3. Lehrjahres der Flakartillerieschule Potsdam- Geltow und Unteroffiziere aus der Truppe als die ersten Unterleutnants für die aufzustellenden Truppenteile und Einheiten der neu zu bildenden Fla- Raketeneinheiten der Luftverteidigung im Lehr- und Ausbildungsregiment 12 in Pinnow bei Angermünde ernannt werden konnten. Zum 12. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik fand dieses feierliche Zeremoniell am Ausbildungsort statt. Unsere gemeinsamen Anstrengungen, meine eigene Arbeit und die meiner Unterstellten, wurden dabei gewürdigt. Aber ich musste auch an meine eigene weitere Qualifizierung denken, denn ich fühlte selbst, wie viel mir noch Können und Erfahrung in einer Offiziersdienststellung fehlten. Beim festlichen Mittagessen mit der Führung des Regimentes fragte mich der Kommandeur des Lehr-und Ausbildungsregiments 12, Major Heinz Trautsch, wie es mir und meiner kleinen Familie gehe. Er kannte meine Unzufriedenheit und teilte mir zwei Varianten der eigenen Qualifizierungsmöglichkeit mit. Die eine Variante wäre, dass ich an der speziellen militärischen Sektion der Ingenieurschule der Deutschen Post in Leipzig ein dreijähriges Studium mit dem Ziel der Ausbildung als Hochfrequenzingenieur aufnehmen könnte. Die zweite Variante bestände in  einer Kommandierung für einen neunmonatigen Ausbildungskurs in die UdSSR nach Ulan-Ude. In die Hauptstadt der Burjatischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik, hinter dem Baikalsee, Sibirien. Er würde mich gerne dafür vorschlagen und riet zur Zusage. Gründlicher könnte ich nirgendwo anders für die neue Waffengattung ausgebildet und für den weiteren persönlichen Werdegang vorbereitet werden. Er kannte den Ausbildungsort und das Ausbildungsprogramm bereits aus eigenem Erleben.

Für mich als junger Offizier spielte dieser Ratschlag des erfahrenen Kommandeurs eine große Rolle. Aber auch eine gehörige Portion an Neugier und Abenteuerlust sowie der stolze Gedanke, zu den wenigen Offizieren zu gehören, die im großen Land lernen durften, führten zu meiner baldigen Zusage. Trotz Familie mit Kleinkind waren ich und auch meine Frau bereit, diese lange Trennung auf uns zu nehmen. Urlaub sollte es in diesen neun Monaten nicht geben. Ulan- Ude war von der Heimat immerhin rund achttausend Kilometer entfernt. Familiäres zählte in der damaligen Zeit nur wenig. Der „militärische Klassenauftrag" wurde über alles gestellt. Ein intensiver Vorbereitungslehrgang fand an einer altbekannten Einrichtung in Potsdam- Geltow statt, der Flakartillerieschule. Wir erhielten nochmals eine fast vierteljährliche Grundlagenausbildung sowie intensiven Sprachunterricht. Russisch fiel mir nicht schwer. Bereits damals entwickelte ich eine gute Begabung und Sprachtalent.

Nach dem Festtagsurlaub zu Weihnachten und über den Jahreswechsel 1961/1962 ...
wurden wir über dreißig Offiziere, vom Major bis zum Unterleutnant, für Reise, Aufenthalt und Studium belehrt und eingekleidet. Je näher der befohlene Abreisetermin rückte, umso beklommener wurde die Stimmung. Aber, die Aufgabe war gestellt und die Entscheidung war getroffen. Anfang Januar 1962 begann die Reise. Mit dem Zug Berlin- Moskau trafen wir in der sowjetischen Hauptstadt ein, um nach wenigen Stunden auf dem Jaroslawler Bahnhof einen Schlafwagen der Transsibirischen Eisenbahn zu besteigen. Die Route nach Ulan- Ude führte durch solche gewaltigen Städte wie Orenburg, Kasan, Swerdlowsk, Krasnojarsk, Nowosibirsk, Tscheljabinsk, Magnitogorsk, Irkutsk und dann am Ufer des Baikalsees entlang. Nach gut fünf Tagen erreichten wir den Zielbahnhof in Ulan- Ude. Damals war die Transsibirische Eisenbahn noch dampfbetrieben. Im Schlafwagen aus der Ammendorfer Waggonfabrik „lebten“ wir zu sechst. Die damals „niedrigen Dienstgrade" Waldner, Giese, Just, Harkner, Metzner, Bertuch, Krolop, Wolny, Baumunk, Jonzeck und weitere hatten untereinander die besten und kameradschaftlichsten Kontakte, auch weil deren Ausbildungsprofile gleich bzw. ähnlich gelagert waren. Die sehr interessante Fahrt reicherten wir zusätzlich neben Essen und Teetrinken vor allem mit Canastaspielen und ab und zu mit einem Gang in das Waggon- Restaurant zum Portwein und anderen höherprozentigen Getränken an. 

Die Fahrt zog sich hin, ging stetig weiter nach Osten. Im europäischen Teil, vor Moskau, erinnerten mich die zu durchfahrende Städte und Ortschaften oft an Vaters Kriegserzählungen. Hier war er am unsinnigen und verbrecherischen Krieg Nazi-Deutschlands gegen die Sowjetunion beteiligt gewesen. Viele Gedanken gingen mir dann durch den Kopf. Ich fuhr jetzt also rund siebzehn Jahre nach dem Ende des II. Weltkrieges hier entlang, durch die riesigen Weiten und dann im Schlafwagen! Im europäischen Teil der UdSSR hielt die Transsib etwa alle drei bis fünf Stunden, auf jeder Station mindest zwanzig Minuten. Mein Ziel war es stets auszusteigen, zu versuchen eine Ansichtskarte zu kaufen, sie zu frankieren und der Post anzuvertrauen. Das gelang fast hunderprozentig. Die Karten kamen tatsächlich Tage später zu Hause in Thüringen an. 

Hinter Moskau dann wurde die Fahrtdauer zwischen den Bahnhöfen mit Halt immer länger. Die großen zu überquerenden Flüsse, die Silhouetten der gewaltigen Industriestädte, aber auch die zu erblickenden ärmlichen und verfallenden Katen in Dörfern, das sich ständig verschärfende Frostwetter, all das waren unvergessliche Eindrücke. Als wir den Ural und damit die Grenze zwischen Europa und Asien überfuhren, waren wir alle wie auf Kommando sehr ruhig und irgendwie bedrückt. Ein eigenartiges Gefühl war es, schwer zu beschreiben. In Asien herrschte bereits strenger Winter. In einem Ort mit dem Namen „Sima“, nomen est omen, auf Deutsch Winter, erwarteten mich beim Aussteigen und dem geplantem Kartenkauf Temperaturen von über minus 41 Grad. Trotz der Warnung der „Provodniza“, der Waggonbegleiterin, nicht auszusteigen, tat ich das. Meine Hand blieb am frostigen Einstieggriff des Waggons für einen Moment kleben. Nur im Trainingsanzug hüpfte ich unter dem Gelächter der Begleiterin und der Kumpels schnell zurück in den gemütlich warmen Waggon ..."  - Fortsetzung folgt!

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